Die Wahrheit der Orthodoxie

Übersetzung von
The Truth of Orthodoxy
erschienen 1952
von Nikolai A. Berdjajew

Die christliche Welt kennt die Orthodoxie nicht sonderlich gut. Sie kennt nur die äußeren und meistenteils, die negativen Eigenheiten der Orthodoxen Kirche und nicht den inneren geistigen Schatz. Die Orthodoxie war in sich eingeschlossen, sie hatte nicht den Geist des Proselytismus und offenbarte sich der Welt nicht. Die Orthodoxie hatte über lange Zeiträume hinweg nicht die weltweite Bedeutung wie Katholizismus oder Protestantismus. Sie war außen vor bei den über hunderte von Jahren währenden heißblütigen religiösen Kämpfen, lebte über Jahrhunderte unter dem Schutz großer Imperien (Byzanz und Russland) und bewahrte ihre ewige Wahrheit vor dem zerstörerischen Lauf der Weltgeschichte. Charakteristisch für die religiöse Natur der Orthodoxie ist, daß sie nicht ausreichend angepaßt und äußerlich dargestellt wurde, sie war nicht militant und genau deshalb wurde die himmlische Wahrheit der christlichen Offenbarung nicht derart entstellt. Die Orthodoxie ist diejenige Form des Christentums, die im Ergebnis der menschlichen Geschichte die wenigsten Entstellungen ihrer Substanz erlitt. Die orthodoxe Kirche hatte Momente der geschichtlichen Sünde, meistenteils in Verbindung mit ihrer äußerlichen Abhängigkeit vom Staat, aber die kirchlichen Lehren, ihr innerer geistiger Weg blieb intakt. Die orthodoxe Kirche ist vor allem die Kirche der Tradition, im Gegensatz zur katholischen Kirche, der Kirche der Autorität, und zu den protestantischen Kirchen, die wesentlich Kirchen eines individuellen Glaubens sind. Die orthodoxe Kirche war nie einer einzigen äußerlichen autoritären Organisation unterworfen, sie wurde von der Kraft ihrer inneren Tradition unerschütterlich zusammengehalten und nicht von einer äußeren Autorität. Es ist die orthodoxe Kirche, die unter allen Formen des Christentums am engsten mit dem frühen Christentum verbunden blieb. Die Stärke der inneren Tradition der Kirche ist die Stärke der geistigen Erfahrung und das Fortschreiten auf dem geistigen Weg, die Kraft des überpersonalen geistigen Lebens, in dem jede Generation den Bewußtseinszustand der Selbstbefriedigung und der Ausschließlichkeit abstreift und mit dem geistigen Leben aller früheren Generationen bis hin zu den Aposteln vereint ist. In dieser Tradition habe ich das selbe Erleben und die selbe Autorität wie der Apostel Paulus, die Märtyrer, die Heiligen und die gesamte christliche Welt. In der Tradition ist mein Wissen nicht nur personal, sondern überpersonal und ich lebe nicht in Isolation, sondern im Körper Christi, innerhalb eines einzigen geistigen Organismus mit allen meinen Brüdern in Christi.

Orthodoxie ist an erster Stelle eine Orthodoxie des Lebens und keine Orthodoxie der Indoktrination. Häretiker sind daher nicht so sehr diejenigen, die eine falsche Lehre bekennen, sondern diejenigen, die das falsche geistige Leben führen und entlang eines falschen geistigen Weges gehen. Orthodoxie ist, vor allem anderen, nicht eine Doktrin, nicht eine äußerliche Organisation, keine äußerliche Verhaltensnorm, sondern ein geistiges Leben, eine geistige Erfahrung und ein geistiger Weg. Sie sieht das Wesen des Christentums in der inneren geistigen Aktivität. Orthodoxie ist weniger eine normative Form der Christenheit (im Sinne einer normativ-rationaler Logik oder eines Moralgesetzes), als vielmehr eine geistige Form. Nicht selten waren diese Geistigkeit und Verborgenheit die Ursache für äußerliche Schwäche. Die äußerliche Schwäche und die ungenügende Entwicklung, der Mangel an äußerlicher Aktivität und Umsetzung betrifft alles, außer ihrem geistigen Leben, ihre geistigen Schätze blieben verborgen und unsichtbar. Das ist die Charakteristik für die geistige Natur des Ostens, im Kontrast zur geistigen Welt des Westens, die immer aktiv und immer sichtbar ist, sich dann aber nicht selten wegen all dieser Aktivität geistig erschöpfte. In der nicht-christlichen Welt des Ostens ist in Indien das geistige Leben besonders verborgen vor den äußeren Augen und wird nicht angepaßt in der Geschichte. Diese Analogie könnte fortgeführt werden, obwohl die geistige Natur des christlichen Ostens weitaus anders ist als die geistige Natur Indiens. Heiligkeit in der orthodoxen Welt hat, im Kontrast zu Heiligkeit in der katholischen Welt, keine schriftlichen Monumente von sich hinterlssen, sie blieb verborgen. Und doch ist das nicht der Grund, weshalb es schwer ist, das orthodoxe geistige Leben von außen zu beurteilen. Die Orthodoxie hatte kein scholastisches Zeitalter, sie erfuhrt nur das Zeitalter der Patristik. Und die orthodoxe Kirche stützt sich bis heute auf die östlichen Kirchenväter. Der Westen sieht darin ein Zeichen der Zurückgebliebenheit der Orthodoxie, das Aussterben kreativen Lebens. Diese Tatsache kann aber auch anders interpretiert werden: in der Orthodoxie wurde das Christentum nicht so rationalisiert wie es im Westen rationalisiert wurde, wo der Katholizismus mit Hilfe von Aristoteles alles durch die Augen des griechischen Intellektualismus betrachtete. In der Orthodoxie hat die Doktrin nie eine so heilige Bedeutung erlangt und Dogmen waren nicht so sehr an verpflichtende intellektuelle theologische Lehren gebunden, sondern vor allem als mystische Wahrheiten verstanden. Wir waren nicht so eingeengt von den theologischen und philosophischen Interpretationen der Dogmen. Das Russland des 19. Jahrhunderts durchlebte eine Genese kreativen orthodoxen Denkens und darin war mehr Freiheit und geistiges Talent enthalten als im katholischen und sogar auch im protestantischen Denken.

Zur geistigen Natur der Orthodoxie gehört der urwüchsige und unantastbare Ontologismus der sich zuerst als eine Manifestation orthodoxen Lebens zeigte und erst dann in orthodoxem Denken. Der christliche Westen durchschritt Wege des kritischen Denkens, bei dem das Subjekt dem Objekt entgegenstand, und somit das organisch Ganze des Denkens und die organische Verbindung mit dem Leben verletzt wurden. Der Westen ist eher imstande zu einer komplexen Entfaltung seines Denkens, seiner Reflexion und seines Kritizismus, seines präzisen Intellektualismus. Doch hier war eine Verletzung der Verbindung zwischen dem der weiß und denkt und der urwüchsigen und ursprünglichen Existenz. Die Erkenntnis kam aus dem Leben und Denken, sie kam aus der Existenz. Erkenntnis und Denken durchschritten nicht das geistige Ganzsein der Person, in der organischen Einheit all ihrer Stärken. Der Westen vollbrachte große Wundertaten auf dieser Grundlage, aber das resultierte in einem Auseinanderfallen des urwüchsigen Ontologismus des Denkens, das Denken ging nicht in die Tiefe des Wesens. Das resultierte in scholastischem Intellektualismus, Rationalismus, Empirismus und dem exteremen Idealismus westlichen Denkens. Auf orthodoxem Boden blieb das Denken ontologisch, verband sich mit der Existenz und das ist offensichtlich im gesamten russischen religionsphilosophischen und theologischen Denkens des 19. und 20. Jahrhunderts. Rationalismus, Legalismus und aller Normativismus ist der Orthodoxie fremd. Die orthodoxe Kirche wird nicht in rationalen Konzepten definiert, sie ist konzeptualisiert nur für diejenigen, die in ihr leben, die vereint sind zu ihrer geistigen Erfahrung. Die christlichen Mysterien sind nicht Gegenstand irgendeiner intellektuellen Definition, sie haben keinerlei juristische Anzeichen und auch kein rationalen Anzeichen. Das echt orthodoxe Theologisieren ist ein Theologisieren auf der Grundlage geistiger Erfahrung. Der Orthodoxie geht der scholastische Leitfaden fast komplett abhanden. Die Orthodoxie versteht sich selbst durch die trinitarische Religion; nicht mit einem abstrakten Monotheismus sondern in einem konkreten Trinitarismus. Das Leben der Heiligen Dreieinigkeit spiegelt sich wieder im geistigen Leben, seiner geistigen Erfahrung und seinem geistigen Weg. Die orthodoxe Liturgie beginnt mit den Worten: „Gesegnet sei das Königtum des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Alles nimmt von oben seinen Ausgang, von der göttlichen Dreiheit, von den Höhen des Wesens und nicht von der Person und ihrer Seele. Nach orthodoxem Verständnis ist es die göttliche Dreiheit die herabsteigt und nicht die Person die aufsteigt. Es gibt weniger von diesem trinitarischen Ausdruck im westlichen Christentum, es ist eher christozentrisch und anthropozentisch. Dieser Unterschied ist in der östlichen und westlichen Patristik zu merken, wo erstere über die göttliche Trinität und die zweite über die menschliche Seele theologisiert. Deswegen proklamiert der Osten zu allererst die Mysterien des trinitarischen Dogmen und der christologischen Dogmen. Der Westen lehrt vorrangig über die Gnade und den freien Willen und über die ekklesiologische Organisation. Der Westen hatte einen größeren Reichtum und eine größere Vielfalt an Ideen.

Die Orthodoxie ist das Christentum, im dem sich der heilige Geist stärker offenbart. Deswegen hat die orthodoxe Kirche das Filioque nicht übernommen, das als eine Unterordnung in der Lehre des heiligen Geists gesehen wird. Die Natur des heiligen Geistes offenbart sich nicht so sehr in Dogmen und Doktrinen, sondern durch sein Wirken. Der heilige Geist ist uns näher, er ist gegenwärtiger in der Welt. Der heilige Geist wirkt direkt auf die geschaffene Welt und gestaltet die Schöpfung um. Diese Lehre wird offenbart vom größten der russischen Heiligen, Seraphim von Sarow. Die Orthodoxie ist nicht nur trinitarisch im Wesen, sondern sie sieht in der Aufgabe des irdischen Lebens die Transfiguration der Welt im Bild der Trinität und läßt sie pneumatisch in ihrem Wesen werden.

Ich spreche über die Tiefen der Mysterien in der Orthodoxie und nicht über vordergründige Trends darin. Die pneumatische Theologie, die Vorahnung von einem neuen Ausgießen des heiligen Geistes in die Welt kommt auf orthodoxem Boden leichter auf. Das ist die bemerkenswerte Eigenheit der Orthodoxie: auf der einen Seite ist sie konservativer und traditioneller als Katholizismus und Protestantismus, auf der anderen Seite ist in der Tiefe der Orthodoxie aber immer eine große Erwartung von einer neuen religiösen Manifestation in der Welt, einem Ausgießen des heiligen Geistes, dem Kommen des neuen Jerusalem. Die Orthodoxie hat sich in der Geschichte fast ein ganzes Jahrtausend lang nicht entwickelt; Evolution ist ihr fremd, aber die Möglichkeit zu einer religiöser Kreativität ist in ihr eingeschlossen, sie wird als Reserve für eine neue, noch nicht erreichte geschichtliche Epoche gehalten. Das wurde in den russischen religiösen Trends des 19. und 20. Jahrhunderts offensichtlich. Die Orthodoxie nimmt eine radikalere Trennung zwischen der göttlichen und natürlichen Welt vor, dem Königtum von Gott und dem Königtum des Cäsars und läßt nicht die Möglichkeit von Analogien zu, die in der katholischen Theologie häufig einleuchten. Die göttlichen Energien wirken verborgen im Menschen und in der Welt. Man könnte über die geschaffene Welt nicht sagen, daß sie ein Gott oder göttlich ist, ebenso wenig könnte man aber sagen, daß sie außerhalb des Göttlichen steht. Gott und das göttliche Leben ähneln der natürlichen Welt nicht oder dem natürlichen Leben, es lassen sich hier keine Gemeinsamkeiten finden. Gott ist ewig; das natürliche Leben ist begrenzt und endlich. Doch die göttlichen Energien werden ausgeschüttet über die natürliche Welt, sie wirken auf sie und erleuchten sie. Das ist das orthodoxe Verständnis des heiligen Geists. Die Lehre von Thomas Aquin, in der die natürliche Welt der übernatürlichen Welt gegenüber gestellt wird, ist für die Orthodoxen eine Form der Säkularisierung der Welt. Die Orthodoxie ist aus Prinzip pneumatologisch und darin liegt ihre Bedeutung. Der Pneumatismus ist das letzte Ergebnis des Trinitarismus. Gnade ist nicht eine Vermittlung zwischen Übernatürlichen und Natürlichen; Gnade ist das Wirken der göttlichen Energien auf die geschaffene Welt, die Gegenwart des heiligen Geistes in der Welt. Es ist der Pneumatismus der Orthodoxie, der sie zu einer kompletteren Form des Christentums macht, die sich in der Vorherrschaft des Neuen Testaments offenbart und den Ursprüngen des Alten Testaments folgt. Als ihren Höhepunkt versteht die Orthodoxie den Sinn des Lebens in dem Suchen und Erlangen der Gnade des heiligen Geistes, als Mittel zu einer geistigen Transfiguration der Schöpfung. Dieses Verständnis ist wesentlich entgegengesetzt einem legalistischen Verständnis bei dem die göttliche Welt und die übernatürliche Welt das Gesetz und die Norm für die geschaffene und natürliche Welt ausmachen.

Die Orthodoxie ist vor allem liturgisch. Sie informiert und erleuchtet die Leute nicht so sehr mit Predigten und Lehren zu Normen und Gesetzen, sondern durch die liturgische Dienste selbst, die eine Vorahnung des transfigurierten Lebens vermitteln. In selber Weise lehrt es die Leute durch die Vorbilder der Heiligen und träufelt den Kult der Heiligkeit ein. Aber die Bilder der Heiligen sind nicht normativ; ihnen wird gewährt die gnadenhafte Erleuchtung und die Transfiguration der Schöpfung durch das Wirken des heiligen Geistes. Daß dies kein normativer Typus für die Orthodoxie ist, erschwert die Wege für das menschlichen Leben und die Geschichte; es macht sie weniger attraktiv für jede Art von Organisation und für kulturelle Kreativität. Das verborgene Geheimnis vom Wirken des heiligen Geistes auf die Schöpfung wurde noch nicht eigentlich realisiert durch die Wege geschichtlichen Lebens. Die Charakteristik für die Orthodoxie ist FREIHEIT. Diese innere Freiheit mag von den außerhalb stehenden noch nicht bemerkt worden sein, aber sie ist überall präsent. Die Idee von der Freiheit als dem Fundament der Orthodoxie wurde im russischen religiösen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt. Die Annahme der Freiheit des Gewissens unterschiedet die orthodoxe Kirche radikal von der katholischen Kirche. Aber das Verständnis von Freiheit ist in der Orthodoxie anders, als das Verständnis von Freiheit im Protestantismus. Im Protestantismus wird Freiheit, wie im gesamten westlichen Denken, individualistisch als personales Recht verstanden, das vor Beeinträchtigungen durch jede andere Person bewahrt wird, wodurch sie für autonom erklärt wird. Individualismus ist der Orthodoxie fremd, sie hängt einem bestimmten Kollektivismus an. Eine religiöse Person und ein religiöses Kollektiv ist nicht unvereinbar mit allen anderen, wie ein äußerlicher Freund gegenüber dem Freund. Die religiöse Person findet sich innerhalb des religiösen Kollektivs und das religiöse Kollektiv findet sich innerhalb der religiösen Person. Das religiöse Kollektiv wird damit nicht zu einer externen Autorität für die religiöse Person, die sie äußerlich belastet mit Lehren und den Gesetzen des Lebens. Die Kirche ist nicht außerhalb der religiösen Person und ihr nicht entgegen. Die Kirche ist in ihnen und sie sind in ihr. Die Kirche ist somit keine Autorität. Die Kirche ist eine gnadenerfüllte Einheit von Liebe und Freiheit. Autoritativität ist unvereinbar mit der Orthodoxie, weil diese Form die Gefahr von Brüchen im religiösen Kollektiv und der religiösen Person mit sich bringt, zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern. Es gibt kein geistiges Leben ohne der Freiheit des Gewissens, es gibt nicht mal ein Konzept von Kirche, weil die Kirche keine Sklaven in sich toleriert, weil Gott nur die Freien will. Aber die authentische Freiheit des religiösen Bewußtseins, die Freiheit des Geistes, wird nicht offenbar in einer isolierten autonomen Persönlichkeit, Selbstbehauptung im Individualismus sondern in einem persönlichen Bewußtsein des Seins in einer überpersonalen geistigen Einheit, in der Einheit mit einem geistigen Organismus, innerhalb des Körpers Christi, d.h. der Kirche. Mein personales Bewußtsein ist nicht außerhalb und ist nicht in Opposition zum überpersonalen Bewußtsein der Kirche gestellt, es wird nur im kirchlichen Bewußtsein offenbart. Ohne aber eine aktive geistige Vertiefung meines personalen Gewissens, meiner personalen geistigen Freiheit, kann das Leben der Kirche nicht real werden, weil dieses Leben der Person gegenüber nicht äußerlich sein oder ihr auferlegt werden kann. Die Teilnahme in der Kirche erfordert geistige Freiheit, nicht nur beim ersten Eintreten in die Kirche, was der Katholizismus auch anerkennt, sondern ihr gesamtes Leben lang. Die kirchliche Freiheit hinsichtlich des Staates war immer bedenklich, aber die Orthodoxie genoss die Freiheit immer innerhalb der Kirche. In der Orthodoxie ist Freiheit organisch verbunden mit Sobornost, d.h. mit der Einwirken des heiligen Geistes auf das religiöse Kollektiv, der nicht nur zu Zeiten der ökumenischen Konzile mit der Kirche war, sondern zu allen Zeiten. Sobornost in der Orthodoxie, das ist das Leben des Kirchenvolkes, hatte nie irgendwelche juristischen Zeichen. Nicht mal die ökumenischen Konzile konnten sich auf eine unbestreitbare äußere Autorität berufen. Die Unfehlbarkeit der Autorität war ein Gut nur der gesamten Kirche in ihrer gesamten Geschichte, der Überbringer und Verwalter dieser Autorität war das gesamte Kirchenvolk. Die ökumenischen Konzile kamen in den Genuß der Autorität nicht weil sie äußerlichen juristischen gesetztlichen Anforderungen genügten, sondern weil das Volk der Kirche, die gesamte Kirche sie als ökumenisch und echt anerkannte. Nur das ökumenische Konzil ist echt, in dem es zu einem Ausgießen des heiligen Geistes kam; im Ausgießen des heiligen Geistes gibt es keine äußerlichen juristischen Kriterien, es wird festgestellt vom Kirchenvolk in Übereinstimmung mit innerlichen geistigen Beweisen. All das weist auf den nicht-normativen nicht-juristischen Charakter der Orthodoxen Kirche. In Verbindung damit begreift das orthodoxe Bewußtsein die Kirche eher ontologisch, d.h. es sieht die Kirche nicht primär als eine Organisation und eine Einrichtung, nicht nur als eine Gesellschaft von Gläubigen, sondern als einen geistigen, religiösen Organismus, den mystischen Körper Christi. Die Orthodoxie ist kosmischer als das westliche Christentum. Weder Katholizismus noch Protestantismus drücken hinreichend die kosmische Natur der Kirche als dem Körper Christi aus. Das westliche Christentum ist vor allem anthropologisch. Aber die Kirche ist auch der christianisierte Kosmos; in ihr ist die gesamte geschaffene Welt Gegenstand des Wirkens der Gnade des heiligen Geistes. Das Erscheinen Christi hat eine kosmische, kosmogonische Bedeutung; es bedeutet auf irgendeine Weise eine neue Schöpfung, einen neuen Tag in der Schöpfung der Welt. Das juristische Verständnis der Erlösung als Austragung eines jurstischen Prozesses zwischen Gott und dem Menschen, ist der Orthodoxie ein bisschen fremd. Es ist näher an einem ontologischen und kosmischen Verständnis als der Erscheinung einer neuen Schöpfung und einer erneuerten Menschheit. Die Idee der Theosis war die zentrale und richtige Idee, die Vergöttlichung des Menschen und der ganzen geschaffenen Welt. Seligkeit ist diese Vergöttlichung. Und die gesamte geschaffene Welt, der ganze Kosmos ist Gegenstand dieser Vergöttlichung. Seligkeit ist die Erleuchtung und Transfiguration der Schöpfung und nicht eine juristische Rechtfertigung. Die Orthodoxie wendet sich dem Mysterium der Wiederauferstehung als dem Gipfel und dem letzten Ziel der Christenheit zu. Daher ist das zentrale Fest im Leben der orthodoxen Kirche das Pascha-Fest, der siegreichen Wiederauferstehung Christi. Die funkelnden Strahlen der Wiederauferstehung durchdringen die orthodoxe Welt. Das Fest der Wiederauferstehung hat eine unermeßlich größere Bedeutung in der orthodoxen Liturgie als im Katholizismus wo der Höhepunkt das Fest der Geburt Christi ist. Im Katholizismus treffen wir vor allem den gekreuzigten Christus und in der Orthodoxie — den Wiederauferstandenen Christus. Der Weg des Kreuzes ist der Weg des Menschen, aber er führt den Menschen, gemeinsam mit dem Rest der Welt, zur Wiederauferstehung. Das Geheimnis der Kreuzigung kann hinter dem Geheimnis der Wiederauferstehung versteckt sein. Aber das Geheimnis der Wiederauferstehung ist das allergrößte Geheimnis der Orthodoxie. Die Wiederauferstehung ist nicht nur für den Menschen, sie ist kosmisch. Der Osten ist immer kosmischer als der Westen. Der Westen ist anthropozentrisch; darin liegt seine Stärke und seine Bedeutung, aber auch seine Begrenztheit. Das geistige Fundament der Orthodoxie bringt eine Sehnsucht nach universeller Erlösung hervor. Erlösung wird verstanden nicht nur als eine individuelle, sondern als eine kollektive, zusammen mit der ganzen Welt. Solche Worte wie von Thomas Aquinas hätten aus dem Busen der Orthodoxie nicht entspringen können, der sagte, daß die rechtschaffene Person im Paradies sich am Leiden der Sünder in der Hölle entzücken wird. Die Orthodoxie hätte auch die Lehre der Prädestination nicht proklamieren können, nicht nur in der extremen calvinistischen Form, sondern in der Form wie der gesegnete Augustinus sich das vorstellte. Der größere Teil der östlichen Kirchenväter, von Clemens von Alexandria bis zu Maximus dem Bekenner, waren Anhänger der Apokatastasis, einer universellen Erlösung und Wiederauferstehung. Und das ist charakteristisch für das (zeitgenössische) russische religiöse Denken. Das orthodoxe Denken wurde nie von der Idee eines göttlichen Gerichts unterdrückt und vergaß niemals die Idee der göttlichen Liebe. Vornehmlich aber definierte es den Menschen nicht vom Standpunkt des göttlichen Gerichts, sondern von der Idee der Transfiguration und der Vergöttlichung von Mensch und Kosmos.

Abschließend: Die letzte und wichtigste Eigenschaft der Orthodoxie ist ihr
eschatologisches Bewußtsein. Die frühe christliche Eschatologie, die Erwartung vom zweiten Erscheinen Christi und dem Kommen der Wiederauferstehung, wurde in einem größeren Umfang in der Orthodoxie bewahrt. Orthodoxe Eschatologie bedeutet eine geringeres Anhängen an die Welt und irdisches Leben und ein größeres Hinwenden zu Himmel und Ewigkeit, d.h. zum Reich Gottes. In der westlichen Christenheit führte die Anpassung des Christentums auf dem Weg der Geschichte, das Hinwenden zu irdischer Effizienz und irdischer Organisation zu einer Verdunkelung des eschatologischen Mysteriums, dem Mysterium vom zweiten Kommen Christi. In der Orthodoxie blieb, vor allem als Ergebnis ihrer geringeren geschichtlichen Aktivität, die große eschatologische Erwartung erhalten. Die apokalyptische Seite des Christentums fand geringeren Ausdruck in den westlichen Formen des Christentums. Im Osten, in der Orthodoxie, besonders in der russischen Orthodoxe, gab es apokalyptische Tendenzen, die Erwartung eines neuen Ausgießens des heiligen Geistes. Die Orthodoxie bewahrte als mehr traditionelle und mehr konservative Form des Christentums die uralten Wahrheiten, sie erlaubte die Möglichkeit größerer religiöser Innovation, nicht Innovationen des menschlichen Denkens, was im Westen so berühmt ist, sondern Innovationen der religiösen Transfiguration des Lebens. Das Primat der Fülle des Lebens über die differenzierte Kultur war immer besonders charakteristisch für die Orthodoxie. Die Orthodoxie erblickte keine so große Kultur wie sie aus den Fundamenten von Katholizismus und Protestantismus aufstieg. Vielleicht ist das so, weil die Orthodoxie dem Reich Gottes zugewandt ist, das nicht als Konsequenz geschichtlicher Evolution kommt, sondern als das Ergebnis einer mystischen Transfiguration der Welt. Nicht Evolution, sondern Transfiguration ist die Charakteristik für die Orthodoxie. Die Orthodoxie kann man nicht aus überlebten theologischen Abhandlungen kennen lernen; sie wird erfahren im Leben der Kirche und ihres Laienvolks, sie wird am wenigsten über den Verstand begriffen. Doch die Orthodoxie muß herauskommen aus ihrem Zustand der Abgeschlossenheit und Isolation, sie muß ihre verborgenen geistigen Schätze verwirklichen. Nur dann wird sie weltweite Bedeutung erlagen. Die Wahrnehmung der ausschließlich geistigen Bedeutung der Orthodoxie als einer reineren Form des Christentums darf in ihr keine Selbstzufriedenheit hervorrufen und zu einer Zurückweisung der Bedeutung der westlichen Christenheit führen. Wir müssen uns im Gegenteil vertraut machen mit der westlichen Christenheit und viele Dinge von ihr lernen. Wir müsen nach christlicher Einheit streben. Die Orthodoxie ist eine gute Basis für eine christliche Einheit. Die Orthodoxie hat doch weniger unter der Säkularisierung gelitten und kann somit eine unermessliche Menge zur Christianisierung der Welt beitragen. Die Christianisierung der Welt kann nicht eine Säkularisierung des Christentums bedeuten. Das Christentum kann von der Welt nicht isoliert werden und es fährt fort sich in ihr zu bewegen, ohne Teilung, und solange es in der Welt bleibt muß es der Eroberer der Welt sein und darf nicht von ihr erobert werden.

Anmerkung der Redaktion des Vestnik: „Als ein treuer Sohn der orthodoxen Kirche blieb NA in seinen philosophischen Werken ein Freigeist, darauf hat er immer wieder hingewiesen. Besonders wertvoll für uns ist sein Zeugnis von der Wahrheit der Orthodoxie, das nicht in der oft leblosen Sprache der scholastischen Theologie verfasst ist. Zur Vermeidung von Mißverständnissen beim Lesen dieses bisher unveröffentlichten Artikels sieht sich die Redaktion verpflichtet gewisse Ausdrücke zu erläutern: Wenn NA auf einer pneumatologischen Natur der orthodoxen Theologie beharrt, wenn er von der „Erwartung eines neuen Ausgießens des heiligen Geists in der Welt“ spricht, dann meint er kein „Drittes Testament“ oder irgendeine Art einer neuen Ära des heiligen Geistes, das die christliche Offenbarung ersetzt. Aus dem Zusammenhang wird klar, daß diese Worte auf die Erfüllung des „himmlischen Jerusalem“ hinweisen; auch in dem Wort „Apokatastasis“ (das der Lehre im Westen von der „Prädestination“ entgegen gestellt wird) Berdjajews bezieht er sich nicht unbedingt auf die Ketzerei eines göttlichen Determinismus. Für einen Philosophen mit seinem Pathos der Freiheit ist seine Darstellung einer universellen Erlösung zumindest akzeptabel.“ (Genauer Wortlaut auf Russisch: Истина Православия)

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2 Kommentare - “Die Wahrheit der Orthodoxie”

  1. antifo Says:

    Ja, das wissen wir ja schon. KGB war ganz schlimm. Ach, mir graut’s immer noch.

  2. bellers, jürgen Says:

    wir sollten im westen von rußland lernen
    prof dr bellers, siegen


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