Übersetzung von
The Truth of Orthodoxy
erschienen 1952
von Nikolai A. Berdjajew
Die christliche Welt kennt die Orthodoxie nicht sonderlich gut. Sie kennt nur die äußeren und meistenteils, die negativen Eigenheiten der Orthodoxen Kirche und nicht den inneren geistigen Schatz. Die Orthodoxie war in sich eingeschlossen, sie hatte nicht den Geist des Proselytismus und offenbarte sich der Welt nicht. Die Orthodoxie hatte über lange Zeiträume hinweg nicht die weltweite Bedeutung wie Katholizismus oder Protestantismus. Sie war außen vor bei den über hunderte von Jahren währenden heißblütigen religiösen Kämpfen, lebte über Jahrhunderte unter dem Schutz großer Imperien (Byzanz und Russland) und bewahrte ihre ewige Wahrheit vor dem zerstörerischen Lauf der Weltgeschichte. Charakteristisch für die religiöse Natur der Orthodoxie ist, daß sie nicht ausreichend angepaßt und äußerlich dargestellt wurde, sie war nicht militant und genau deshalb wurde die himmlische Wahrheit der christlichen Offenbarung nicht derart entstellt. Die Orthodoxie ist diejenige Form des Christentums, die im Ergebnis der menschlichen Geschichte die wenigsten Entstellungen ihrer Substanz erlitt. Die orthodoxe Kirche hatte Momente der geschichtlichen Sünde, meistenteils in Verbindung mit ihrer äußerlichen Abhängigkeit vom Staat, aber die kirchlichen Lehren, ihr innerer geistiger Weg blieb intakt. Die orthodoxe Kirche ist vor allem die Kirche der Tradition, im Gegensatz zur katholischen Kirche, der Kirche der Autorität, und zu den protestantischen Kirchen, die wesentlich Kirchen eines individuellen Glaubens sind. Die orthodoxe Kirche war nie einer einzigen äußerlichen autoritären Organisation unterworfen, sie wurde von der Kraft ihrer inneren Tradition unerschütterlich zusammengehalten und nicht von einer äußeren Autorität. Es ist die orthodoxe Kirche, die unter allen Formen des Christentums am engsten mit dem frühen Christentum verbunden blieb. Die Stärke der inneren Tradition der Kirche ist die Stärke der geistigen Erfahrung und das Fortschreiten auf dem geistigen Weg, die Kraft des überpersonalen geistigen Lebens, in dem jede Generation den Bewußtseinszustand der Selbstbefriedigung und der Ausschließlichkeit abstreift und mit dem geistigen Leben aller früheren Generationen bis hin zu den Aposteln vereint ist. In dieser Tradition habe ich das selbe Erleben und die selbe Autorität wie der Apostel Paulus, die Märtyrer, die Heiligen und die gesamte christliche Welt. In der Tradition ist mein Wissen nicht nur personal, sondern überpersonal und ich lebe nicht in Isolation, sondern im Körper Christi, innerhalb eines einzigen geistigen Organismus mit allen meinen Brüdern in Christi.

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