Antisemitismus in der Russisch-Orthodoxen Kirche

Übersetzung von
The Jewish Question In The Russian Orthodox Church
von Gregor Benewitsch

Kapitel 1

Wenn es nur so einfach wäre! – daß irgendwo schwarze Menschen mit böser Absicht schwarze Werke vollbringen und es nur darauf ankäme, sie unter den übrigen zu erkennen und zu vernichten. Aber der Strich, der das Gute vom Bösen trennt, durchkreuzt das Herz eines jeden Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?
Alexander Solschenizyn
Der Archipel Gulag

Das Problem des Antisemitismus in der Russisch-Orthodoxen Kirche hat, wie auch in der allgemeinen Gesellschaft, verschiedene Dimensionen. Eine davon ist die soziologische Dimension. Zur Klärung eines möglichen Mißverständnisses in Teilen der westlichen Leserschaft möchte ich mit diesem Aspekt des Problems beginnen. Lassen Sie mich eine Zusammenfassung aus dem Artikel Antisemitismus und Orthodoxie im heutigen Russland (Sicht eines Soziologen) von Vladimir Borzenco, geschrieben 1992 und vom  Keston Institute in Religion, State and Society in der Ausgabe 23 N1 1995 veröffentlicht: „Der allgemeine Anteil des Antisemitismus in Russland ist im Vergleich niedriger, als der Durchschnitt in den entwickelten europäischen Ländern“. Gemäß Borzenko, der sich mit seinen Aussagen auf die Ergebnisse einer seriösen soziologischen Erhebung stützt, „gab es in praktisch jeder Kategorie und bei praktisch jeder Frage weniger Hinweise auf Antisemitismus unter orthodoxen Untergruppen als unter Atheisten. Von nicht mehr als etwa zehn Prozent der russischen Bevölkerung als Ganzes könnte man sagen, daß sie antisemitisch sind.“

Was gibt es dann zu diskutieren, wenn die Lage so gut ist? Ich glaube nicht, daß Borzenkos Ergebnisse falsch waren, nur ist Russland kein Land des Westens. Der Anteil von zehn Prozent in Russland mag andere Implikationen haben, als vergleichbare Zahlen in, sagen wir mal, England oder den USA. Vor der Revolution stellten die Kommunisten nicht mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, dennoch war, angesichts der totalen Krise der Gesellschaft und der Schwäche aller anderen politischen Parteien im Jahr 1917,  dieser geringe Anteil dieser kleinen, aber ideologisch starken Gruppe groß genug, um die Macht an sich zu reißen und das russische Volk in eine kommunistische Zukunft zu führen.

Anders ausgedrückt würde dieses Maß an Antisemitismus in Russland weitaus weniger Bedenken auslösen, wenn wir nur keine Krise in unserer Wirtschaft, Politik, Ideologie und Kultur hätten, die eine allgemeine Krise der Gesellschaft ist. Das Problem dieser Krise ist jedoch nicht das Thema meiner Vorlesung.

Als orthodoxen Christen beunruhigt mich, daß es solche ein Phänomen wie Antisemitismus in der Russisch-Orthodoxen Kirche überhaupt gibt, auch wenn es nicht so weit verbreitet ist, wie es scheinen mag.

Weiterhin lassen sich einige sehr gefährliche Anzeichen von Antisemitismus finden, nicht so sehr unter den sozusagen einfacheren Christen, als unter der russisch-orthodoxen Intelligenzija, in der Priesterschaft ebenso wie unter den Laien. Die Protokolle der Weisen von Zion, die in den Untiefen der zaristischen Polizei entstanden und dann eine böse Rolle in Nazi-Deutschland spielten, tauchten in unseren Kirchen-Läden inmitten einer ganzen Auswahl neuer Schwarzhunderter-Literatur auf. Entsetzliche Pamphlete über jüdische Opferungen christlicher Säuglinge lassen sich nicht nur leicht in Sankt Petersburg, Moskau oder Sergijew Possad finden, viel gefährlicher ist, die weite Verbreitung einiger davon, die von Priestern oder Mönchen geschrieben wurden und einfache Antworten auf die Frage geben, wer schuld ist an all den Unglücken in der russischen Geschichte.

Nun will ich Ihre Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Problem lenken. Ja, es ist eine Tatsache, daß Antisemitismus wohl nirgendwo in der Welt  so offen aggressiv ist, wie in der modernen russischen Orthodoxie. Es läßt sich jedoch leicht noch eine weitere erstaunliche Tendenz ausmachen. Ich weiß nicht, ob irgendeine christliche Einrichtung in der Welt sich mit einer so großen Zahl von Juden rühmen kann, die Christen werden, als die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Ich will nicht anfangen zu zählen, doch ich kann bezeugen, daß ich persönlich viele Juden kenne, die Christen in dieser Kirche wurden und werden. Der Berühmteste ist Vater Alexander Men. Es gibt viele Juden unter den Priestern und Mönchen ebenso wie unter den besten Theologen. Das Leben in Russland ist jetzt ziemlich hart und Juden können leicht nach Israel oder Amerika emigrieren, um dort ein besseres Leben zu führen. Diejenigen, die in Russland bleiben, haben jedoch oft geistige Gründe. Der Stärkste davon ist die Christenheit und ihre Liebe für die geistige und kulturelle russische Tradition, die sich von der russischen Orthodoxie nicht trennen läßt.

Die Anzahl der Juden, die in Russland Christen werden, ist scheinbar so groß, daß sie die Russen selbst zornig macht: das ist etwas, was dem von Apostel Paulus in Röm. 11, 11 beschriebenen Prozess widerspricht. (Deswegen kann man dieser Aussage Jürgen Moltmanns nicht zustimmen: „Für einen Heidenchristen … gibt es für seine Erlösung nichts Positiveres als das jüdische Nein zu Christus.“ in: Jüdischer Monotheismus und christliche Trinitätslehre. Ein Gespräch zwischen Pinchas Lapide und Jürgen Moltmann. Die Erfahrung im modernen Russland führt uns zu genau dem entgegengesetzen Ergebnis.) Nach Jahren des institutionalisierten Atheismus in Russland erfaßte auch die russischen Juden, die meist nicht Juden nach ihrer Erziehung und Religion waren, sondern nur dem Blute nach, dieses Phänomen und Juden waren unter den Ersten, die nach den religiösen Werten suchten, die in den Jahren des Kommunismus verloren gegangen waren. Als Liebhaber der alten russischen klassischen Kultur, mit der sie einst aufwuchsen, hat dies viele von ihnen zur Kirche gebracht. Grund ist, daß die russische Kultur selbst durch und durch christlich ist.

Nicht immer sind Russen glücklich darüber, wenn sie diese Juden in ihrer, wie sie manchmal fälschlicherweise denken, Nationalkirche als Christen wiederfinden. Es gibt daher auch die Parole: Eine jüdische Kirche für Juden. Das ist der Titel eines Artikels von N. Dobrowin, der in der rechtsgerichteten nationalistischen Zeitung Zemschina N 99 erschien. Der Autor dieses Artikels verweist auf die Offenbarung des Johannes und sieht in dieser Konversion von Juden zum Christentum Anzeichen für die letzten Tage. Er fürchtet sich richtig, daß dieser Prozess den nationalen Charakter der russischen Kirche ruinieren kann und argumentiert für die Einrichtung einer jüdischen Kirche in Israel mit Zweigen in allen Ländern, in denen Juden leben und Christen sein wollen.

Lassen Sie mich nun zu den ernsteren, theologischen Themen kommen. Wie Sie wissen, wurde das Problem des Antisemitismus in der westlichen Christenheit im Rahmen der sogenannten „Theologie nach Auschwitz“ gelöst. Diese Theologie befleißigte sich zu proklamieren, daß alle Kirchenväter und alle Lehren der Kirche, in denen einige negative Haltungen gegenüber Juden leicht zu finden sind, daß alle diese Kirchenväter falsch waren und teilweise sogar Verantwortung für Auschwitz tragen.

Wir kommen nun zum zentralen Problem der orthodoxen Kirche. Ich glaube, daß die Orthodoxie niemals ihr eigenes Erbe verwerfen wird. Niemand wagt zu sagen, daß die hll. Johannes Chrysostomos und Maximus der Bekenner falsch lagen. Niemand wagt zu sagen, daß die Lehrer der orthodoxen Christen über Jahrhunderte falsch lagen, wir aber in unserer Sündhaftigkeit, die nicht auch nicht den Schimmer von deren Heiligkeit haben Recht haben. Diese theologische Lösung des jüdischen Problems ist in der Orthodoxie unmöglich. (Im Gegensatz zum Protestantismus und dem moderne Katholizismus ist die orthodoxe Christenheit mindestens so treu zu ihrer eigenen Tradition wie das orthodoxe Judentum.)

Wirklich interessant ist aber dies: die Haltung der orthodoxen Kirchenväter gegenüber Juden macht all den Juden, die in Russland zu orthodoxen Christen werden überhaupt keine Angst, diese Haltung hält sie nicht davon ab, Christen zu werden. Freilich kann man als Jude nicht erfreut über diese Worte der Kirchenväter sein, aber wer sagt denn das und wann wurde jemals gesagt, daß das Christentum entstand, um uns Vergnügen zu bereiten. Das Christentum bringt uns Freude, nur eben eine geistige, gleichwohl fordert es etwas von uns: seine eigene „Seele in dieser Welt“ (Joh. 12, 25) zu hassen und das ist keine vergnügliche Angelegenheit.

Der Antisemitismus der russisch-orthodoxen Christen unterscheidet sich jedoch ziemlich vom Antijudaismus der Kirchenväter. Die Kirchenväter haben nie ein Wort gesagt gegen Juden die Christen wurden, dieser Prozess war tatsächlich nie von irgendeiner Bedeutung.

Wie auch heute führten im frühen Christentum nationale und kulturelle Befindlichkeiten in der Kirche zu administrativer Uneinigkeit, das war eine Angelegenheit der sich der hl. Paulus entgegen stellte. Leider geschieht es in der modernen Orthodoxie in Ländern wie den USA oder England oft, daß man in einer Stadt drei oder sogar fünf nationale orthodoxe Kirchen findet. Das ist, würde ich sagen, das Hauptproblem unserer Kirche, ihr größtes Leiden, zumal wenn sie nicht in sakramentaler Union zueinander stehen. In Bezug auf die Juden die heute in Russland zur Orthodoxie kommen, würde ich von diesem Prozess von Gottes Vorsehung sprechen, weil diese Juden die russisch-orthodoxen Christen an den universellen Charakter der Kirche erinnern, der sich nicht auf irgendeine konkrete lokale Form eingrenzen läßt. Beide Seiten in der russischen Orthodoxie werden von Gott auf ihre Weise gelehrt. Den Juden wird gelehrt ihre eigene Seele zu hassen, wenn sie mit dem Antijudaismus der Kirchenväter konfrontiert sind, der sich auch in den Worten der Choräle des Gottesdienstes findet. Die Russen werden ihrerseits gelehrt ihre eigene Seele zu hassen, das bedeutet ihre jüdischen Brüder in der Kirche zu lieben, trotz aller kulturellen, ethnischen und anderen Differenzen. Alle werden gelehrt ihre „Seele in dieser Welt zu hassen“, das bedeutet, die angeborene Sündhaftigkeit zu hassen, ihre Fehle in der Liebe Gottes und dem Nächsten gegenüber. Das ist für beide Seiten eine schwierige Aufgabe, obwohl Gott nie einfache Sachen von Seinem auserwählten Volk fordert, und Juden und russische Christen behaupten gleichermaßen dies zu sein, behaupten das von Gott geliebte Israel zu sein.

Es ist aus Sicht der orthodoxen Kirche nicht richtig über die Kirche einerseits und Israel andererseits zu sprechen, wie das die Theologie nach Auschwitz oftmals tut. Die christliche Kirche ist keine Kirche der Heiden. Hier liegt das hauptsächliche Mißverständnis der Kirche sowohl auf Seiten des Judentums und der Theologie nach Auschwitz. Nicht-orthodoxe Christen mögen sich Heiden nennen, wenn sie wollen (wie etwa der deutsche Theologe Jürgen Moltmann), orthodoxe Christen werden sich niemals Heiden nennen und werden es niemals hinnehmen von den Juden so bezeichnet zu werden. Der Grund ist einfach, daß der Hauptpunkt der Aufgabe Christi in dieser Hinsicht das Niederreißen der Trennmauer zwischen Israel und den Heiden war. Gemäß Apostel Paulus ist Christus „unser Friede, der aus beiden ‚eines‘ gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft“ (Eph. 2, 14). Und diese Trennmauer ist in der Kirche nach unserem Glauben wirklich zerstört. Orthodoxe Christen gleich welchen ethnischen, kulturellen oder nationalen Hintergrunds werden in der Kirche Israel, genau das Israel von Abraham, Jakob und Isaak. Dieses Gefühl des Einsseins mit dem Israel der Patriarchen und Propheten reicht in der Orthodoxie wirklich sehr tief, und es gibt viele Feste, bei denen ihr Andenken zusammen mit dem Andenken der christlichen Heiligen gefeiert wird

An dieser Stelle mag man unwillkürlich fragen, wie es mit den Juden selbst aussieht, sagt die orthodoxe Kirche, daß nach dem Christus-Ereignis diejenigen Juden, die Ihn nicht annehmen, nicht mehr zu dem von Gott geliebten Israel gehören? Ich denke, daß die Antwort auf diese Frage von Seiten der Kirche die selbe sein sollte, wie auf die Frage nach den nicht-orthodoxen Christen. Diese Antwort wurde im 19. Jahrhundert von dem großen russischen religiösen Denker Alexei Khomiakow gegeben. Er sagte, daß sich die Kirche (d.h. die orthodoxe Kirche) Selbst als die Kirche kennt, anders gesagt als Israel Gottes. Bei allen anderen Christen, und ich würde hier auch Nichtchristen und sogar Atheisten hinzufügen, können wir es nicht beurteilen. Nur Gott weiß, ob sie zu Seinem Volk gehören, seinen geliebten Israel, oder nicht. Wir sind uns nur sicher darin, daß es nur ein Israel geben kann, nur ein Volk Gottes, weil es nur einen Gott gibt und unsere Kirche versteht Sich als ein Zeuge dieses Einsseins. Anders gesagt glauben wir, daß nur in Christus eben diese Gegnerschaft des jüdischen Israels und der nicht-jüdischen Heiden aufgehoben ist, die die Hauptquelle für die Feindschaft zwischen ihnen ist. Sie wird aufgehoben im Neuen und dennoch Alten Israel, das gleichermaßen die Kirche von Juden und Nichtjuden ist, die an Christus glauben.

Anstelle von Moltmanns Redewendung: „Das Christentum kann nur gemeinsam mit Israel die Erlösung erlagen“, würde ich hinzufügen: „Juden können die Erlösung nur erlangen, indem sie das selbe Israel sind.“

Es kann nicht zwei Israels geben oder Israel und die Kirche, wie die „Theologie nach Auschwitz“ zu argumentieren versucht. Gott fordert Liebe vom Menschen, nicht nur „Gemeinsamkeit“ in den Begriffen von Moltmann, noch viel weniger Toleranz und Indifferenz wie das nun im Westen oft bei Judentum und Christentum der Fall ist.

Ich meine nicht, daß Antisemitismus jemals zu rechtfertigen ist, und sei es auch nur auf der Grundlage von Antijudaismus. Antijudaismus und Antisemitismus sind aber nicht untrennbar verbunden, wie die Theologie nach Auschwitz und das Judentum selbst zu argumentieren versucht. Man kann das Judentum verurteilen ohne antisemitisch zu sein. Das Problem ist, daß einige immer noch an der Unterscheidung von Antisemitismus und Antijudaismus scheitern. Nach solchen historischen Erfahrungen wie den Pogromen von Chișinău ist unsere Kirche verpflichtet Ihre Lehre klar auszudrücken, daß Sie die Juden nicht mit dem Judentum identifiziert. Unsere Kirche braucht Ihrer Tradition nicht untreu werden, Sie kann ihr Erbe bewahren und den Antisemitismus zurückweisen.

Was es bedeutet das Erbe der Kirchenväter in der modernen Welt zu bewahren kann anhand des Beispiel des sogenannten Problems der „Gottesmörder“ klar gezeigt werden. Seit der Zeit der Auseinandersetzung um die Nestorianer, als der Begriff der Theotokos in Frage stand und von der Kirche letztlich bestätigt wurde, wurde es bekanntlich üblich die Juden „Gottesmörder“ zu nennen. Können wir nach Auschwitz noch an diesem furchtbaren Wort festhalten? Die Theologie nach Auschwitz und Vatikan II antworten klar, „nein“. Das bedeutet jedoch die Autorität der Kirchenväter abzulehnen, für die dieser Begriff recht gebräuchlich war. Es gibt jedoch eine andere Lösung für dieses Problem, ein wirklich ernstes Problem, denke ich, weil nach Borzenkos Umfrage viele orthodoxe Christen weiterhin an die jüdische Verantwortung an der Kreuzigung Christi glauben. Tatsächlich gibt es da aber zwei unterschiedliche Fragen. Eine ist: wer tötete Christus? Die andere ist: wer ist schuldig? Ja, wenn wir historisch über jüdische Schuld und christliche Schuld sprechen, kommen wir unausweichlich zur Tatsache des Kreuzes Christi. Die Tatsache, daß Juden Christus töteten und nicht an Ihn glaubten, war die Quelle für den christlichen Hass gegen das Judentum. Die Theologie nach Auschwitz (die protestantische) versucht das Problem oftmals so zu lösen, daß nicht die Juden sondern die Römer, besonders Pontius Pilatus, an der Tötung Christi schuld sind. Diese Theologie stimmt nicht mit den Kirchenvätern überein, die klar sagten, daß Juden die Mörder Gottes waren.

Die Orthodoxie kann an diesem Punkt der Theologie nach Auschwitz nicht zustimmen. Das ist ein Thema von großer Wichtigkeit. Wenn wir sagen, daß die Römer Christus töteten, bleibt einem aufmerksamen Leser der Evangelien immer noch die Möglichkeit zu sagen, daß die Juden es waren (siehe z.B. Apg. 2, 22-23). Somit bleibt immer noch die Möglichkeit für Antisemitismus. Die orthodoxe Position ist fundierter, denke ich. Wir sagen, daß, gleich wer Christus tötete, Christus seine Schuld auf Sich genommen hat. Nachdem Er Gott ist (zusammen mit Seinem Vater und dem Heiligen Geist) ist er die einzige wahre Quelle für das Kreuz. Wenn wir also sagen, daß die Juden (oder wenn Sie möchten die Römer) Christus töteten, dann müssen wir hinzufügen, daß Christus ihre Sünde auf Sich genommen hat. Deswegen können wir niemanden für Seinen Tod beschuldigen. Wenn Juden nicht anerkennen, daß ihre Vorväter Gott getötet haben ist das eine Sache ihrer Freiheit, wir Christen können mit unseren Kirchenvätern beides sagen — daß Juden Gott töteten und daß ihre Sünde mit Seinem Blut gesühnt wurde. Somit können nur wir in Christus sagen, daß sie nicht schuldig sind.

Es ist ein Paradoxon des Judentums, daß die Juden, bis zur Annahme der Göttlichkeit Christi und daß sie Gott auf Golgatha gekreuzigt haben (Gott, gegen den das Verüben einer Gewalttat unmöglich ist) mit Gott unversöhnt bleiben. Wenn andererseits diejenigen, die an diesen Ereignissen nicht beteiligt waren, irgendwen (Juden im Besonderen) als am Tode Christi schuldig betrachten würden, dann leugnen sie praktisch die Göttlichkeit Christi. Das bedeutet, wie Juden, erkennen sie Ihn nicht als Erlöser an, selbst wenn sie Christen zu sein behaupten.

Ich kenne jedoch noch einen anderen Ansatz zum Thema des „Gottesmordes“, einen katholischen Ansatz, der auch unter Juden in Russland beliebt ist. Diese Lösung für das Problem setzt voraus, daß diejenigen Juden, ein paar Hundert vielleicht, die Pontius Pilatus Christus zu töten zwangen, tatsächlich die Mörder Christi sind, nicht aber die gesamte Nation, noch viel weniger die heute lebenden Juden. Diese Idee scheint recht vernünftig. Nur frage ich da, ob die modernen Juden „immer noch von Gott geliebt sind um der Väter willen“? (Röm. 11, 28) Ich glaube mit dem Apostel Paulus, daß sie das sind. Wenn „Gottes Gaben und Berufung“ (Röm. 11, 29) von Generation zu Generation übertragen werden, so ist das ein Ereignis in der Vergangenheit mit einer Auswirkung in die Zukunft, weshalb sollte man denken, daß das Kreuzesereignis keine noch bis heute dauernde Auswirkung hat (*siehe Fußnote d. engl. Vorlage).

Nachdem ich selbst ein Jude bin, sehe ich keinen anderen Weg zur Aussöhnung mit Gott für mich, als ein orthodoxer Christ zu sein, was aber natürlich nicht heißt, daß ich irgendwelche Versuche zulassen würde, Juden der Tötung Christi zu beschuldigen. Ich wiederhole noch mal: es ist eine Sache mit den Kirchenvätern zu sagen: Juden haben Christus getötet, eine andere Sache ist es zu sagen, daß sie schuldig sin. Die erste Aussage ist wahr, die zweite ist — falsch, aber auch nur, wenn wir glauben, daß Christus Gott ist (**siehe Fußnote d. engl. Vorlage).

Lassen Sie uns nun aber unsere eigenen Worte untersuchen. Wie können wir wissen, ob sie gerichtet haben oder nicht. Nur ein Mensch selbst und Gott kann wissen, was in der menschlichen Seele ist. Das Problem bei der Unterscheidung zwischen Faktum und Urteilsspruch wurde von der modernen Philosophie aufgeworfen, den Kirchenvätern war es als solches nicht bekannt, deswegen finden wir nichts in ihren Schriften, das uns diese Unterscheidung treffen läßt. Die Kirchenväter kannten jedoch das Wort „apatheia„, und Heiligkeit ist tatsächlich etwas, was von „apatheia“ nicht getrennt werden kann. (siehe weitere Ausführungen zu „apatheia in engl. Vorlage)

Zur Charakterisierung der Situation in der Russisch-Orthodoxen Kirche hinsichtlich der jüdischen Frage sagte Erzpriester Prof. Vitaly Borovoy: „Kürzlich hat die russische Kirche neue Heilige proklamiert. Einige davon werden zu den größten Vorläufern der Frömmigkeit, des Dienens, des asketischen Lebens usw. gezählt. Andere waren jedoch auch Vertreter damaliger politischer Ideen — am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts — sie waren Monarchisten, Antisemiten, weil viele Juden sich an der Revolution beteiligten.

Nun, dann wird es Leute geben, die sich einige ihrer Meinungen herauspicken und uns alle zu Verrätern des orthodoxen Glaubens erklären. Ich rufe alle Orthodoxen auf … helft uns unserem Volk die wirkliche Bedeutung der Lehren der Kirchenväter zu erklären, damit wir uns nicht auf bestimmte Sichtweisen berufen, die rein historischen Charakter haben. Das ist wirklich wichtig, weil wir alle im Klima des geistigen Terrorismus leben, den diese Kategorien hervorbringen, nach denen wir, so wäre es dann, Gefangene des jüdischen Einflusses wären.“(pp 64-5).

Es gibt tatsächlich zwei Probleme, denen wir uns gegenüber sehen. Das erste ist ein Problem der Kanonisierung von Heiligen. Meiner Auffassung nach ist es, wenn einer durch die Kirche zum Heiligen erklärt wurde, nicht richtig (und sogar blasphemisch) zu sagen, daß er ein Antisemit war. Sonst könnten die Leute glauben es sei möglich (und erlaubt) orthodox und antisemitisch zu sein, daß man als Antisemit sogar ein Heiliger sein kann.

Lassen Sie mich nochmal sagen, nur Gott weiß, ob diejenigen, die etwas gegen die Juden sagen, sie bei der Verurteilung im Zustand der „apatheia“ sind oder ob sie sie als leidenschaftliche Antisemiten hassen und beschuldigen.

Nun, insoweit die Kirche bspw. Johannes von Kronstadt kanonisiert hat, so bedeutet dies sie glaubt, daß er niemand war, der die Juden oder Kommunisten oder irgendwen sonst hasste, andernfalls wäre er kein Heiliger. Eine andere Antwort auf diese Frage gibt es, glaube ich, nicht.

Das zweite von Prof. Vitaly Borovoy aufgeworfene Problem ist ein Problem der Historizität der Wahrheit. Ja, es ist wahr, daß die Lehren der Kirchenväter, ebenso wie andere Lehren, immer in einem historischen Kontext proklamiert werden. Es ist aber nicht richtig, einzelne ihrer Worte auf der Basis zurückzuweisen, daß wir in einem anderen Moment der Geschichte leben. Alles was die Kirchenväter gesagt haben, kann nützlich sein und auf unsere Situation angewandt werden, wenn es richtig interpretiert wird.

Nachdem wir glauben, daß Heilige, wenn sie jemanden verurteilten, die Sünde und den Teufel hassten, nicht den Sünder, dürfen wir deren Worte auf die selbe Sünde anwenden, wenn sie heute begangen wird. Gerade auf der Grundlage des leidenschaftslosen Charakters der Worte der Kirchenväter verschwindet die Wahrheit ihrer Worte nicht mit der Zeit.

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3 Kommentare - “Antisemitismus in der Russisch-Orthodoxen Kirche”


  1. […] mit Antisemitismus gleichsetzt. Wer diesem Muster folgt, der legt dieses Erbe in jüdische Hände. Nach kirchlicher Auffassung ist einzig die Kirche Jesu Christi das von Gott geliebte Israel. Diesem Israel der Verheißung […]

  2. Krenkel Says:

    Darf man fragen, wann der zitierte (und zweifelsohne interessante) Text verfaßt wurde?

    • antifo Says:

      Ich bin mir nicht sicher. Auf der oben verlinkten Seite von Benewitsch finde ich zwei Artikel angegeben:

      The Russian Orthodox view of Post-Auschwitz Theology // Proceedings of the International Scholar Conference on Theology After Auschwitz and the Gulag. St.-Petersburg: SRPh, 1997. Р. 88–106.

      Judaism and the Future of Orthodoxy // Theology After Auschwitz and its Correlation with the theology after the Gulag. St. Petersburg: SRPh,1998. P. 78-93.

      Möglicherweise ist das der erste Artikel unter einem anderern Namen. Falls nicht, würde ich davon ausgehen, daß Benewitsch das in etwa zur selben Zeit geschrieben hat bzw. „geschrieben“ ist eigentlich falsch, weil es sich offenbar um einen Vortrag handelt, der dann veröffentlicht wurde. Wo er veröffentlicht wurde, kann ich leider nicht sagen. Das sollte aber zu recherchieren sein.


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