Tunesien: Ratschläge von Ratlosen

Seit der überstürzten Ausreise des langjährigen tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali überstürzen sich Medien und Politiker mit Ratschlägen: Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert Übergangspräsident Fouad Mbazaa auf, auf die protestierenden Menschen zuzugehen und „wirkliche Demokratie“ einzuführen. Der ehemalige EU-Kommissar und jetzige italienische Außenminister Franco Frattini will Tunesien „näher an die EU angerückt“ sehen und schlägt vor, „Jugendlichen aus Ländern wie Tunesien Aufenthalte in EU-Ländern zu ermöglichen“.

Der Kolumnist der Huffington Post, Shadi Hamid, meint, die USA und Europa müßten unbedingt Druck ausüben, um sicherzustellen, daß innerhalb der nächsten 60 Tage „freie und faire“ Wahlen mit „voller Partizipation aller politischen Kräfte“ durchgeführt werden, bei denen auch „die verbotene, von Rachid al-Ghannouchi geführte islamistische Partei Al Nahda“ beteiligt werden müßte. In der FAZ ist unterdessen zu lesen, daß den tunesischen Islamisten gar nicht zugetraut würde, daß sie „das Machtvakuum in ihrem Sinne füllen“ könnten und von Al Nahda spricht man als einer „gemäßigten Islamistenpartei“.

Ist diese „Partei“ (von einer Bewegung zu sprechen wäre derzeit wohl richtiger) wirklich so „gemäßigt“?

Rashid Al-Ghannoshi, Führer der "Al Nahda"

Rashid Al-Ghannoshi, Führer der "Al Nahda"

Über den in London lebenden Rachid al-Ghannouchi ist bekannt, daß er ein „begeisterter Anhänger der Hamas“ ist, die ihn als Theoretiker schätzt und als einen der Ihren betrachtet. Im Mai 2001 segnete er in einer von Al-Jazeera ausgestrahlten Fernsehsendung die Mütter von Selbstmordattentätern mit den Worten:

Ich möchte meine Segenswünsche den Müttern dieser Jugendlichen übermitteln, dieser Männer, denen es gelungen ist, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu erringen … Ich segne die Mütter, die im gesegneten Palästina den Samen dieser Jugendlichen gepflanzt haben, die dem internationalen System und den von den USA unterstützten arroganten Israelis eine wichtige Lehre erteilt haben. Die palästinensische Frau, die Mutter der Shahids [Märtyrer], ist selbst eine Märtyrerin, und sie hat ein neues Vorbild für die Frau geschaffen …

Ein Kind wird zum Selbstmordattentäter abgerichtet

Ein Kind wird zum Selbstmordattentäter abgerichtet

Nun ist  Rachid al-Ghannouchi zwar in Großbritannien, ungeachtet dieser Referenzen der ganz besonderen Art, ein dem Anschein nach gern gesehener Referent bei akademischen Veranstaltungen wie der Rethinking Jihad-Konferenz, die vom 7.-9. September 2009 an der Universität von Edinburgh stattfand (hier sein Vortrag als Keynote-Sprecher zu Yusuf al-Qaradawi) und vom britischen Steuerzahler über den Veranstalter wohl mitfinanziert wurde. Nur bedeutet das denn wirklich, daß al-Ghannouchis Bewegung nun sofort, automatisch und ohne jede Vorbedingung vom Westen der Ritterschlag zu einer demokratischen Partei erteilt werden müßte?

Wer diese Frage stellt, der wird sie kaum anders als mit einem Nein beantworten können, wenn er sich die Konsequenzen für die Region vergegenwärtigt: der Ritterschlag zum Demokraten wäre der erste Domino-Stein, auf dessen Fall die Moslembruderschaft (hier ein Interview mit al-Ghannouchi auf deren englischsprachiger Website und da ein Artikel über seine Ansichten zu Pakistan) seit Jahren sehnsüchtig wartet. Überall in Nordafrika —  in Libyen, in Algerien, in Marokko und in Ägypten — würden ihre Parteigänger dann auf „Tunesien“ als Modell verweisen, um „demokratisch“ an die Macht zu kommen und die neu geschaffene Demokratie dann Stück um Stück zu erwürgen. Selbst die im Gazastreifen mit grausamem Terror gegen den politischen Gegner an die Macht gekommene Hamas müßte man früher oder später als legitime Regierung anerkennen.

Es ist doch hoffentlich nicht das, was Sie mit „wirklicher Demokratie“ meinen, Frau Merkel?

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5 Kommentare - “Tunesien: Ratschläge von Ratlosen”

  1. Haggi Says:

    Quo vadis, Tunisia?


    Bericht eines Augenzeugen ohne PC und lesenswert

  2. Zahal Says:

    Danke für den Beitrag, ich schätze den Islamisten genauso ein. Leider sind unsere europäischen Politiker von allen guten Geistern verlassen, entweder total naiv oder aber total abgebrüht. Bei diesen Menschen kann man nicht mit europäischen Masstäben messen, dort gilt nicht das: Ich bin ok, also bist auch du ok…… käme diese Partei an die Macht, würden sich genau die von dir beschriebenen Entwicklungen abspielen und der Nahe Osten würde um mehrere Pulverfässer reicher sein.

    Soviel europäische Dimmheit gehört abgestraft.

    • antifo Says:

      käme diese Partei an die Macht, würden sich genau die von dir beschriebenen Entwicklungen abspielen und der Nahe Osten würde um mehrere Pulverfässer reicher sein.

      Sie muß gar nicht mal an die Macht kommen. Es genügt bereits, wenn sie als „demokratische Partei“ behandelt wird, damit die Parteigänger der Moslembruderschaft in den anderen Ländern von einem erfolgreichen Modell sprechen können. Dem wird Vorschub geleistet, wenn in Zeitungen wie der FAZ von einer „gemäßigten Islamistenpartei“ gesprochen wird.

  3. antifo Says:

    Gemäß der Medienberichte scheint man sich in Tunesien derzeit einig zu sein, daß die Parteien, die die bisherige Regierung gestürzt haben, keinerlei Chance bekommen sollen, sich an der nächsten Regierung zu beteiligen. Nun weiß ich natürlich wenig bis gar nichts über diese Parteien, aber für die Stabilisierung des Landes ist es sicher nicht hilfreich, wenn man die bisherigen Eliten nun einfach ausschließt. Da mögen viele in Korruption verstrickt sein, aber nachdem es keine religiösen Fanatiker sind, sehe ich keinen Grund, weshalb man hier gegen demokratische Grundsätze verstoßen sollte. Wenn die Tunesier sie nicht mögen, dann brauchen sie sie ja nicht zu wählen. Insofern habe ich fast schon ein wenig Verständnis, wenn die Leibgarde da nun bewaffneten Widerstand leistet. Es schadet halt nur dem Land … 😦

  4. antifo Says:

    Hier noch eine Arbeit, in der das Demokratieverständnis Ghannoshis erläutert wird:

    http://ijcv.org/index.php/ijcv/article/view/22/22


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