Wie sich die Türkei ihr 9/11 bastelt

Übersetzung des Artikels How WikiLeaks cables capture 21st-century Turkey

von Jackson Diehl aus der Washington Post vom 5. Dezember 2010.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu lächelte fröhlich, als er wiederholte: Ja, die Konfrontation zwischen der israelischen Kommando-Einheit und den türkisch-islamischen Aktivisten vor der Küste des Gaza-Streifens im Mai kann durchaus mit den Angriffen von Al Qaida auf New York und Washington verglichen werden.

„Das war das türkische 9/11 — ich wiederhole das!“, schrie er während eines Besuches in Washington letzte Woche. „Ich spreche nicht von der Anzahl“, fügte er hinzu, als darauf hingewiesen wrude, daß am 11. September 2.900 Menschen starben und neun bei dem Kampf um die Flotilla. „Ich will damit den psychologischen Schock in der Türkei in Worte fassen. Bürger unseres Landes wurden von einer ausländischen Armee getötet.“

 

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu ("außergewöhnlich gefährlich")

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu ("außergewöhnlich gefährlich")

Nun, ganz so einfach war die Sache nicht. Diese Türken waren keine unschuldigen Zivilisten, sondern Kämpfer, die die Konfrontation gesucht hatten; sie wurden nicht von Selbstmord-Attentätern getötet, sondern von Berufssoldaten, die anfangs noch mit Farbmunition und Tränengas gekämpft hatten.

Es ist also schon sehr schräg, wie Davutoglu seinen Hauptpunkt zu belegen versucht: daß es keinen Grund für Verstimmungen zwischen seiner Regierung und der Obama-Administration gebe. „Seit mehr als zwanzig Monaten haben wir hervorragende Beziehungen“, sagte er. „Und als strategische Verbündete müssen wir unsere Beziehungen schützen.“

Die Türkei ist NATO-Mitglied, sie beherbergt US-Militärstützpunkte, die für die Operationen in Afghanistan und dem Irak gebraucht werden, und sie ist ein Hauptabnehmer amerikanischer Waffen. Aber ist sie wirklich immer noch ein Verbündeter? Das ist die Frage, mit der zwei aufeinanderfolgende US Administrationen ringen, wie nun einige der interessanteren von Wikileaks enthüllten Depeschen des US State Departments zeigen. Während der acht Regierungsjahre der verhalten islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wurde die Türkei zu einer Art Modell für die verzwickten Beziehungen des 21. Jahrhunderts, mit denen die Vereinigten Staaten umgehen müssen.

Die Türkei war ein autoritärer Staat, der sich zuverlässig in den Westen eingereiht hatte. Jetzt ist sie eine Demokratie mit einer boomenden Wirtschaft — und großen geopolitischen Ambitionen. Die Macht der breiten Unterstützung gab Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan das Selbstvertrauen, die US-Politik im Iran zu unterlaufen, anti-amerikanische muslimische Diktatoren im Sudan und Syrien zu veredeln, und Israel bald schon als Feind darzustellen — und das alles, während türkische Truppen in Kabul eingesetzt werden und man sich beim Kampf gegen kurdische Aufständische auf die Hilfe der USA für die eigene Armee verläßt.

Noch gibt es im Mittleren Osten Herrscher wie Ägyptens Husni Mubarak, ein mürrischer Machthaber, der die strategischen Interessen der USA still unterstützt, sich einer Modernisierung seiner verrottenden Alleinherrschaft jedoch verweigert. Erdogan sieht darin eine Gelegenheit, um selbst zum regionalen Macht-Makler zu werden. „Die Türkei, die, hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Erfolges, ihrer Macht und dem Willen für die Interessen der Völker aufzustehen auf die vorgebliche Bewunderung der Bevölkerungen des Mittleren Ostens baut, greift über auf die undemokratischen Regimes bis zur ‚arabischen Straße'“, erklärt eine der Depeschen, die von der US-Botschaft in Ankara dieses Jahr verschickt wurde. Daher die überhitzte Rhetorik zu Israel, die ebenso kalkuliert wie leidenschaftlich abgegeben wurde.

In den Wikileaks-Depeschen ist Davutoglu eine Art Anti-Held, der als „außerordentlich gefährlich“ und „verloren in neo-osmanischen islamistischen Fantasien“ beschrieben wird. Als er wenige Stunden nach der Veröffentlichung dieser Beschreibungen in Washington eintraf, nahm er eine Entschuldigung von Außenministerin Hillary Clinton an, spielte den entstandenen Schaden herunter — und umarmte zumindest einen Teil der Botschafts-Analyse. „Britannien hat einen Commonwealth“ mit seinen ehemaligen Kolonien, erinnerte er. Weshalb sollte die Türkei in den ehemals osmanischen Ländern auf dem Balkan, im Mittleren Osten und in Zentral-Asien ihre Führung nicht wieder errichten?“

Es ist faszinierend, die emotionalen Ausschläge in den US-Analysen dieses sich schnell wandelnden Partners zu verfolgen. Von dem ehemaligen Botschafter Eric Edelman wird Erdogan als sauer beschrieben, als jemand, der „einen autoritären Einzelgänger-Fimmel“ hat; der Nachfolger von Edelman, James F. Jeffrey, kommt zu dem Schluß, daß Erdogan „Israel einfach hasst„, und dass sein Drängen nach regionaler Autorität „kein einziges nennenswertes Erfolgserlebnis aufweisen kann“. Gleichwohl kommt in den Depeschen auch Bewunderung für Erdogans politische Sachkenntnis und für die Rolle der Türkei im Libanon, in Pakistan und sogar Syrien zum Ausdruck.

Tatsächlich sieht Erdogan als Möchtegern-Führer immer noch attraktiver aus, als Mitbewerber wie Hassan Nasrallah von der Hisbollah. Schließlich ist die Türkei von europäischem Handel und Investitionen abhängig; sie will einen demokratischen Irak, einen Iran ohne Atomwaffen und den Erfolg der NATO in Afghanistan. Sie erkennt Israel noch an. Von ihrem Wesen her ist sie eine echte muslimische Demokratie — was bedeutet, daß sie gleichzeitig schwieriger ist und, in gewisser Weise, mehr eine Art Verbündeter ist, als sie mal war.

„Letztlich werden wir mit der Türkei leben müssen, deren Bevölkerung vieles von dem antreibt, was wir sehen“, schrieb Jeffrey in einer eindringlichen Depesche. „Das verlangt nach einem fallweisen Ansatz und der Anerkennung/Erkenntnis, daß die Türkei oft ihren eigenen Weg gehen wird.“ „Der gegenwärtige Schlag politischer Führer“, bemerkt er, hat eine „besondere Leidenschaft für das zerstörerische Drama und Rhetorik. Am Horizont ist aber kein besserer zu erblicken, und die Türkei wird eine schwierige Mischung aus Weltklasse-„westliche“-Einrichtung, Kompetenz und Orientierung, und Mittlerem Osten, Kultur und Religion,  bleiben.“

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