Antisemitenprozesse

In seinem Artikel Antisemiten und Islamfeinde: Hetzer mit Parallelen vom März 2012 spricht der Historiker Wolfgang Benz von Parallelen zwischen Islamkritikern und den Antisemiten zur Zeit des Berliner Antisemitismusstreits.

Wer sich ein Bild darüber machen will, findet hier einen fundierten Artikel des Paderborner Professors Dr. Martin Leutzsch, der die Zeitspanne 1870 bis 1931 umfaßt. Erwähnt wird u.a. ein Antisemitenprozess von 1884, bei dem ein Johann Gildemeister als Gutachter in Erscheinung trat.

Es gab in dieser Zeit offenbar mehr als einen derartigen Prozess. Die Zeitung Der Israelit brachte am 23. Juni 1884 einen Bericht über einen solchen Prozess:

Aus Thüringen. Am 12. d. M. spielte, wie bereits kurz berichtet, vor der Strafkammer in Eisenach ein antisemitischer Preßprozess, dessen Ausgang es wohl verdient, Notiz von ihm zu nehmen. Der Redakteur der in Kaltennordheim erscheinenden „Feldazeitung“, eines wenig verbreiteten Blättchens, Herr Unglaube, hat schon seit einiger Zeit in demselben Stilübungen in antisemitischen Hetzartikeln zu Tage gefördert. So brachte er auch vor Kurzem eine Blumenlese aus dem Talmud, durch welche nachgewiesen werden sollte, daß es den Juden erlaubt sei, die Christen zu belügen und zu betrügen u. s. w. Diesen Unglaublichkeiten fügte er die Bemerkung hinzu, daß der Talmud das Gesetzbuch der Juden sei, dessen Vorschriften, also auch die von ihm angeführten, alle Juden befolgten. Der Landrabbiner, Herr Dr. Salzer in Stadtlengsfeld, machte ihn brieflich darauf aufmerksam, daß seine Blumenlese lauter Unwahrheit enthalte und ersuchte ihn, dieselben zu widerrufen, widrigensfalls er genöthigt sein würde, der Staatsanwaltschaft Anzeige zu machen. Anstatt des Widerrufes ließ Herr Unglaube einen neuen, nicht minder gehässigen Artikel vom Stapel. Herr Dr. Salzer legte hierauf diese Angelegenheit in die Hände des Großherzoglichen Staatsanwaltes. Am 12. d. M. fand die strafgerichtliche Verhandlung und die Vernehmung des vom Gerichte erwählten Sachverständigen, des Redakteurs der „Eisenacher Zeitung“, Herrn Löwenheim, statt.

Da derselbe zwar die Behauptungen des Herrn Unglaube verneinte, aber doch erklärte den Talmud nicht genau zu kennen, so trug der Anwalt des Herr Unglaube auf Vorladung eines anderen Sachverständigen an und schlug zu diesem Zwecke einen Professor in Münster, der in einem ähnlichen Prozesse vernommen wurde, vor. Der Staatsanwalt widersprach diesem Ansuchen überhaupt und namentlich noch in Bezug auf den genannten Herrn. Die Akten des Münsterschen Prozesses in ähnlicher Angelegenheit lagen dem Gerichte vor, in diesem aber fände sich die Erklärung des erwähnten Sachverständigen, daß ihm eine genaue Kenntnis des Talmuds, so wie des talmudischen Idioms abgehe. Es sei die bei den Akten liegende Erklärung des Herrn Landrabbinen, daß die betreffenden Behauptungen sich im Talmdu durchaus nicht vorfinden und vollständig aus der Luft gegriffen seien, als ein autoratives und genügendes Sachverständigenurtheil anzusehen; sollte aber das Gericht dennoch einen Sachverständigen hören wollen, so schlage er Herrn Professor Dr. Delitzsch in Leipzig vor, der auf diesem Gebiete eine anerkannte Autorität sei. Der Gerichtshof erklärte die Vernehmung noch eines Sachverständigen für unnöthig. Herr Staatsanwalt Siefert führte ferner aus: Da der sehr beschränkte Leserkreis des in Rede stehenden Blättchens die nachtheilige Wirkung seines Inhaltes mindere, und da Herr Unglaube selbst erklärt habe, seine Anführungen aus einer antisemitischen Zeitung entnommen zu haben, und diese sich, wie der Herr Staatsanwalt sich mit Recht ausdrückte, sonderbarer Weise „Die Wahrheit“ nenne, so sei anzunehmen, daß er in gutem Glauben gehandelt habe und sei daher von einer Bestrafung abzusehen. Die Behauptung des Herr Unglaube aber, daß alle Juden nach diesen Talmudgesetzen handeln, sei eine strafbare Beleidigung der Juden und er beantrage deshalb gegen den Redakteur, Herrn Unglaube, die Zuerkennung einer vierwöchentlichen Gefängnisstrafe. Der Gerichtshof entschied diesem Antrage gemäß. Herr Unglaube mußte noch die Bemerkung des Herrn Staatsanwalt hinnehmen, daß sein Antisemitismus wohl seinen Grund in dem Umstande habe, daß ein Jude in Kaltennordheim die für ihn beim Vorschußvereine eingegangene Bürgschaft zurückgezogen habe.

Neben dem Talmud war auch der Schulchan Aruch Gegenstand solcher Prozesse. Ein diesbezügliches Gutachten von Johann Gildemeister kann man hier nachlesen.

Im Jahr 2005 wollten Abgeordnete der russischen Duma jüdische Organisationen als extremistisch verbieten lassen und bezogen sich dabei ebenfalls auf den Schulchan Aruch. Dieser Versuch scheiterte jedoch.

Wer sich in die Materie einarbeitet, findet tatsächlich bemerkenswerte Parallelen. Der einzige Unterschied ist, daß es sich heute nicht um das Judentum, sondern um den Islam handelt. Welche Vorhalte man den Juden damals machte, kann man im „Handbuch der Judenfrage“ von Theodor Fritsch nachlesen. Die Ausgabe von 1944 findet man hier.

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